Für einen weiten Horizont!
15. Dez 2011
von Josef Hochgerner
Ein Jahr nach dem Sparbudget von 2010 mit drastischen Einschnitten zu Lasten der außeruniversitären Forschung ist nicht nur die Entwicklung dieses Sektors, sondern auch der Bestand des Euro umstritten. In Bezug auf das Größere der Probleme ist ebenso auffallend wie frustrierend, dass die Angstreaktionen einer Spardiktatur den Weg ebnen, die den zahlenden 90% der Bevölkerung noch sehr teuer zu stehen kommen wird. Dieser Situation liegt die Blasenbildung von Reichtum ohne reale Wertschöpfung durch Finanzialisierung zugrunde, wovon sich die Regierungen ohne Gegenwehr erpressen lassen.
Von der wirtschaftlichen und politischen Dramatik abgesehen geht es hierbei um die auch nicht unbescheidene Frage, ob und was Sozialwissenschaften zur Realisierung der wahrscheinlich wichtigsten sozialen Innovation des 21. Jahrhunderts beitragen können: Der Herstellung des Primats gesellschaftlicher Institutionen zur Regulierung ökonomischer Prozesse. Die Bewältigung des Klimawandels, sozialer Zusammenhalt und Friede werden nur gelingen, wenn als Voraussetzung dafür die Schande überwunden wird, dass in Zeiten überschießender Produktivität und obszön ungleich verteilten Reichtums annähernd 1000 Millionen Menschen in Not, Elend und Hunger gehalten werden.
Diese Problematik schimmert durch, wenn in Forschungsprogrammen und Innovationsstrategien auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene von ‚großen Herausforderungen’, bzw. in Verbindung damit von der Notwendigkeit und Dringlichkeit sozialer Innovationen die Rede ist. Das am 6. Dezember beim Europäischen Forschungsrat vorgestellte künftige Rahmenprogramm für Forschung, Technologie und Innovation ist hier keine Ausnahme. „Horizon 2020“ basiert auf den drei Säulen ‚exzellente Wissenschaft’, ‚Marktführerschaft’ und ‚gesellschaftliche Herausforderungen’.
BM Töchterle hat bei dieser Gelegenheit die Ausrichtung der Forschungsthemen an den großen gesellschaftlichen Herausforderungen besonders hervorgehoben. Neben dem MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) soll die Rolle der Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gestärkt werden: „Die komplexen Problemstellungen, für die Wissenschaft und Forschung Lösungen finden müssen, können nicht alleine durch Naturwissenschaft und Technik bewältigt werden. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz.“
In der Praxis unterfinanzierter Sozialwissenschaften steigert das den individuellen wie auch organisatorischen Stresspegel. Die Erwartungen und Anforderungen, durch Forschung und Innovation zur Bewältigung von ‚grand challenges’ beizutragen, wachsen den durch Einsparungen weiter limitierten Möglichkeiten über den Kopf. Wenngleich die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit eklatant ist: Die Erweiterung des Horizonts ist nicht nur zeitlich auf 2020 und danach, sondern auch im Hinblick auf Organisationsformen und Zusammenarbeit über fachliche und institutionelle Grenzen hinaus geboten.
2011 hat das ZSI wie schon viele Jahre zuvor mit einigem Erfolg an der Erweiterung dieses Horizonts gearbeitet. Dabei wissen wir die Kommunikation und Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen im weiten Kreis des Verteilers unseres eJournals sehr zu schätzen. Namens des ZSI bedanke ich mich dafür, und wünsche Ihnen was in diesen Zeiten schwer zu bekommen scheint: Besinnlichkeit und die Chance einen weiten Horizont zuversichtlich durchwandern zu können – und darauf aufbauend ein erfolgreiches Jahr 2012!
Verweise und Literatur:
Finanzialisierung: Erläuterungen und Debatten
Windolf, Paul (Hg.) 2005: Finanzmarkt-Kapitalismus. Sonderheft 45 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
http://www.uni-koeln.de/kzfss/archiv03-05/ks05shin.htm
Krippner, Greta R., 2005: The financialization of the American economy. Socio-Economic Review 2005 3(2), pp. 173-208.
http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=811461##
Regulierung ökonomischer Prozesse
Schulmeister, Stephan, 2010: Mitten in der großen Krise. Ein „New Deal“ für Europa. Wiener Vorlesungen, Edition Gesellschaftskritik, Bd. 7. Wien: Picus
http://www.vidc.org/index.php?id=1368
Bresser-Pereira, Luiz Carlos, 2010: The 2008 financial crisis and neoclassical economics. Brazilian Journal of Political Economy, Vol. 30, Nr. 1 (117): pp. 3-26
http://www.bresserpereira.org.br/papers/2010/10.08.Global_Financial_crisis-REP.pdf
"Horizont 2020": Informationen über das komenden EU Forschungsrahmenprogramm 2014-2020
http://rp7.ffg.at/horizon2020
http://ec.europa.eu/research/horizon2020/index_en.cfm?pg=home
BM Töchterle: Stellungnahme zum kommenden Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 / Horizont 2020