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Sommerkurs 'Soziale Innovation' in Kolumbien

21. Aug 2013

Zwei Wochen Ideenfindung und Projektentwicklung, 15. - 26. Juli 2013

Seit soziale Innovationen in Wissenschaft, Forschung und politischen Debatten als relevant anerkannt und etabliert sind, gewinnen auch Bildung und Weiterbildung an Bedeutung. Das zeigen die wachsende Anzahl von Sommerschulen und Workshops, die in vielen Regionen der Welt stattfinden, einschließlich der vom ZSI veranstalteten SOQUA Summer School 'Social Innovation in Europe and Beyond' (2012), und nicht zuletzt des an der Donau Universität Krems eingeführten Studiengangs 'M.A. in Social Innovation'.

Im Juli 2013 organisierte die Universidad Nacional de Colombia (UNAL) einen ambitionierten zweiwöchigen Sommerkurs zu sozialer Innovation. Dieser Kurs fand de facto an drei Orten statt:

Die Präsenzveranstaltung mit Präsentationen und von den Lehrenden angeleiteten Gruppenarbeiten wurde in der Außenstelle der UNAL auf der Insel San Andrés in der Karibik durchgeführt, die durch permanentes Video live streaming mit UNAL in Bogotá und Medellin verbunden war. Das war eine von der Universität getroffene Entscheidung, um mit den vielen TeilnehmerInnen umgehen zu können, die nicht in San Andrés Platz gefunden hätten. Durch diese Maßnahme konnten insgesamt 58 BewerberInnen in den Kurs aufgenommen werden. Diese setzten sich zusammen aus Studierenden der Universität, AbsolventInnen und externen Berufstätigen, aber auch einigen UNAL-Professoren und -Professorinnen. Insgesamt ergab sich daraus ein sehr breites Spektrum von wissenschaftlichem und beruflichem Hintergrund.

Es schien sehr unwahrscheinlich, dass über Video ausreichend Information und Inhalte von den auf Interaktivität und Gruppenarbeit ausgerichteten Lernprozessen nach Bogotá und Medellin übermittelt werden könnten. Aber dank sehr disziplinierter Mitarbeit und Kooperation innerhalb aller drei Gruppen waren die Ergebnisse der Leistungen jeweils höchst bemerkenswert.

Aus diesem Grund möchte ich den Prozess und die Ergebnisse hier in einigen Punkten zusammen fassen:

 

1. Das Kursprogramm und die Lehrenden (faculty)

Das Programm umfasste vier Grundmodule, die jeweils von jeweils zwei Lehrenden durchgeführt wurden. Die kleine faculty erwies sich als sehr produktiv. Die paarweise Zuständigkeit und durchgehende Anwesenheit der beiden Modulverantwortlichen für die zwei Module der ersten, bzw. für die zwei weiteren Module der zweiten Woche führte zu hoher Kohärenz an Inhalten und didaktischem Vorgehen. Das gesamte Programm steht hier als attachment im spanischen Original ('Curso Innovación Social') zur Verfügung. Im Folgenden finden Sie eine kurze Übersicht über die Basismodule der zwei Wochen. Die Module I und II wurden von mir und Dmitri Domanski von der Sozialforschungsstellen (sfs) der TU Dortmund konzipiert und durchgeführt. In der zweiten Woche lag die Verantwortung für die Module III und IV bei Maria Elisa Bernal (CEPAL) und Nicolás Monge (Universität Santiago de Chile).

Modul I: Konzeption und aktuelle Perspektiven sozialer Innovation (Dmitri Domanski / Josef Hochgerner)

  • Thematische Orientierung: Definitionen, Konzepte etc.
  • Soziale Innovationen entwickeln und umsetzen
  • Sichtweisen und Ausblick

Modul II: Erfolgreiche Erfahrungen von sozialen Innovation aus dem Ausland (Dmitri Domanski / Josef Hochgerner)

  • Instrumente zur Ermöglichung und Förderung sozialer Innovation
  • Von Europa nach Lateinamerika

Modul III: Methdoden für die Entwicklung und Realisierung von innovativen Lösungen für soziale Probleme (Maria Elisa Bernal / Nicolás Monge Iriarte)

Modul IV: Soziale Wirksamkeit und Transformation aus lateinamerikanischer Perspektive (Dmitri Domanski / Josef Hochgerner)

 

2. Der Prozess

In der Vorbereitung wurden die Module auf einander abgestimmt und die Zuordnung zu den euopäischen bzw. lateinamerikanischen Vortragenden beschlossen. UNAL wollte eine internationale faculty und wünschte UNAL die Verwendung von Englisch als Arbeitssprache, um den Studierenden auch diesbezüglich eine Übungsmöglichkeit zu bieten. Dies wurde in der ersten Woche so gehalten, in der zweiten Woche aber spanisch gesprochen.

Von der gegebenen Arbeitsteilung und dem inhaltlichen Fokus ausgehend kann ich hier nur Eindrücke aus der ersten Woche und Einschätzungen zu den Ergebnissen der Arbeit von Studierenden zu den Modulen I und II darstellen.

Mit Dmitri Domanski hatte ich eine Vielzahl an Folien (ppt) mit theoretischen und empirisch-praktischen Informationen für die Schwerpunkte von fünf Tagen vorbereitet, in die auch fünf wichtige Übungen für aktives Arbeiten - in Gruppen und individuell - vorbereitet (s. dazu att. "ALLslides ...").

Die größte Herausforderung an die TeilnehmerInnen ging allerdings über diese Übungen hinaus: Als Leistungsnachweis (für Studierende notwendig) sollten sie einen Entwurf für die Identifikation, Entwicklung, Implementierung und erwartete Wirksamkeit selbst gewählter Projekte möglicher sozialer Innovationen schreiben. Dieser Aufgabe lagen die Resultate der Übungen 1 und 2 zugrunde, nach welchen Arbeitsgruppen (von zwei bis sieben Personen) zu den von ihnen angestrebten sozialen Innovationen gebildet wurden. Die zugewiesenen Tasks sollten unter der Annahme bearbeitet werden, die jeweilige Gruppe sei ein Projektteam, das nicht nur in diesem Sommerkurs besteht, sondern weiterhin an der konkreten Realisierung des Projekts arbeiten würde.

Als Richtlinie für die Strukturierung ihres Texts sollten die Gruppen dem (im Vortrag erklärten) "4-i" Prozess folgen - von der grundlegenden Idee bis zum potenziellen impact des geplanten SI-Projekts.

  • Ideenfindung: Analyse des sozialen Problems, das durch neue oder bessere Ideen (im Vergleich zu anderen konkurrierenden Ideen und Methoden) gelöst werden soll.
  • Intervention: Wie kann in gegebene Situationen und bestehende Verhältnisse eingegriffen werden? Was sind dafür geeignete Verfahren und wie kann dafür Unterstützung gewonnen werden?
  • Implementierung: Einer Analyse der begünstigenden bzw. behindernden Faktoren und des Einflusses diverser Stakeholder soll die Erfolgswahrscheinlichkeit und der erwartete Zeit bis zur praktischen Umsetzung abgeschätzt werden.
  • Impakt: Wer bzw welche sozialen Gruppen werden in welcher Weise von den Auswirkungen betroffen sein? Kann es unerwünschte Nebeneffekte geben, wie dauerhaft werden Wirkungen und die Verbreitung ('Lebenszyklus') der beabsichtigten sozialen Innovation sein?

Dmitri und ich präsentierten diese Aufgabenstellung am Mitwoch (3. Tag) mit der moderaten Erwartung, eher sehr kursorische Entwürfe auf wenigen Seiten zu erhalten. Immerhin war die verfügbare Zeit neben Lesen und weiter laufendem Kurs sehr begrenzt - noch abgesehen von der zumindest in San Andrés gegebenen Konkurrenz durch karibische Sonne und Strände. Wegen des ebenfalls Beiträge der Studierenden erfordernden Programms der zweiten Woche war vorgesehen, dass die als eine Art 'Pre-Proposal' konzipierten Papers am Dienstag der zweiten Woche abgegeben werden sollten - nicht zuletzt um auch unsererseits bis zum letzten Tag des Kurses am Freitag entsprechendes Feedback geben zu können. Das funktionierte alles sehr gut; darüber hinaus belegt die Einrichtung einer Facebook-Gruppe durch die Teilnehmerinnen ihre Absicht, tatsächlich auch in Zukunft zumindest über die Realisierung der Projektideen zu kommunizieren: Curso Innovación Social UNAL San Andrés 2013

 

3. Ergebnisse

Wie ich in meinem Feedback (s. attm. "Feedback comprehensive overview") schrieb, übertrafen Umfang und Qualität der abgelieferten Arbeiten die Erwartungen bei weitem. Klarer Weise bestehen Unterschiede hinsichtlich der Qualität von Analysen und der Konzeptualisierung; aber alle Gruppen haben systematisch die vier Phasen ("4-i") behandelt und präsentierten mehr oder weniger sachkundig und gründlich ihre Ideen, mögliche Interventionen, Überlegungen zur Implementierung und Anasätze einer Wirkungsanalyse.  

Insgesamt wurden Papers von neun Gruppen vorgelegt, welche die ergiebige Zusammenarbeit von in Summe 41 Teilnehmerinnen in San Adrès, Bogotá und Medellin eindrucksvoll dokumentieren.

Aus europäischer Perspektive erscheinen mir dazu einige Beobachtungen wert, hervorgehoben zu werden:

  • Unter der Annahme von Kolumbien als signifikantem Beispiel für Lateinamerika erscheint in diesem Kontext soziale innovation nicht als ein Mittel zur Ergänzung von fehlenden - oder Ersatz von ruinierten - Elementen von Sozialsystemen wie wir sie aus Europa kennen. Die Diskussionen und schriftlichen Resultate dieses Kurses lehrten mich, dass in Kolumbien (und sehr wahrscheinlich in anderen Teilen Lateinamerikas) soziale Innovationen eher als Wegbereiter und eine Art Brutstätte für künftige Sozialsystem in diesem Raum zu sehen sind.
  • Einige der Gruppen beziehen sich in ihren Arbeiten explizit auf die kolumbianische Verfassung von 1991, indem sie dringend für die Verwirklung ihrer Prinzipien, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit plädieren. Tasächlich wurde diese neue Verfassung international als großer Fortschritt zur Steigerung von Sicherheit, Beteiligung und der allgemeinen Wohlfahrt der kolumbianischen Bevölkerung als Human Rights Constitution gewürdigt. Online sind auf constitutionnet.org die wichtigsten Zielsetzungen der neuen Verfassung wie folgt zusammen gefasst: "The demand for a new constitution was driven by the need to establish modern democratic institutions that would encourage greater participation in the democratic process, strengthen the rule of law in order to defuse political violence, and to secure human rights by establishing mechanisms for the protection of these rights." Es erscheint mir wesentlich, dass Studierende soziale Innovationen für wichtig und geeignet halten, die positiven Potenziale der Landesverfassung zu verwirklichen - umso mehr, als diese selbst das ultimative Resultat einer zivilgesellschaftlichen Bewegung ist.
  • Ähnliche Hoffnungen werden in die "Milennium Development Goals" der Vereinten Nationen gesetzt. Die UN MDG zielen, neben anderen Richtwerten aus dem Jahr 2000, bis 2015 auf eine Halbierung der Anzahl von extremer Armut betroffenen Menschen ab. In Kolumbien ist Reduzierung "extremer Armut" (Leben mit weniger als 1 US $ pro Tag) nicht bloß ein statistisch relevanter Vergleichswert auf dem Papier, sondern eben ein ganz reales Problem der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, das 2009 29% der Gesamtbevölkerung (40% in ländlichen Gebieten) betraf.

Der Zugang, soziale Probleme innovativ lösen zu wollen, ist daher in Kolumbien nicht nur verschieden davon, durch soziale Innovation Wandel und Modifikationen in den Sozialstaatssystemen des reicheren Teils Europas zu bezwecken. Soziale Innovation in Lateinamerika (und wohl ebenso in größten Teilen Afrikas und Asiens) ist darüber hinaus engebettet in unterschiedliche sozio-kulturelle Muster, Werte und Referenzsysteme. Ausgangspunkte für soziale innovationen können daher gleichermaßen verschieden sein wie ihre erwarteten und potenziellen Auswirkungen.

Ich ziehe daraus den Schluss, dass in Zukunft die Anzahl von Projekten sozialer Innovation und die der involvierten Menschen, die generelle Reichweite und Relevanz von soziale Innovationen in Ländern wie Kolumbien wesentlich höher und wirkungsvoller sein wird als in Westeuropa und Nordamerika. Das trifft wohl in erster Linie zu auf soziale Innovationen, die auf unmittelbare soziale Bedürfnisse ("social demand perspective") *) reagieren oder gesellschaftlichen Herausforderungen begegnen sollen ("societal challenges perspective"). Weniger zutreffend ist diese Gewichtung möglicher Weise in bezug auf systemische soziale Innovationen ("systemic change perspective"), denn im Fall systemischer Veränderungen sollte die Annahme berechtigt sein, dass die am industriell am weitesten entwickelten Länder voran gehen müssten. 

*) Drei Formen von Zielsetzungen zur Charakterisierung sozialer Innovationen nach dem BEPA Report, 2010. 

Josef Hochgerner

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Tags: Latin America, social innovation